Gefühlt war ich mein ganzes Leben lang auf Diät. Mal strenger, mal weniger streng.
Jedenfalls kann ich mich nicht daran erinnern, befreit gegessen zu haben (zumindest nicht, seitdem ich erwachsen bin). Und dabei spreche ich nicht von sündhaften Schlemmereien, sondern von ganz normalen, ausgewogenen Mahlzeiten.
Im Hinterkopf überschlug ich immer die Kalorien und ordnete das Essen ein. War es zu hochkalorisch oder zu fettig, versuchte ich weniger zu essen oder es mir komplett zu verbieten.
Besonders schlimm empfand ich irgendwelche Feiern, bei denen alle um mich herum nach Lust und Laune aßen, während ich verzichtete. Trotzdem waren sie schlank und ich übergewichtig, wie unfair!
Ich lebte ständig im Verzicht – so zumindest meine Selbstwahrnehmung.
Rückblickend stimmt das jedoch nur so halb. Zwar habe ich wirklich sehr konsequent und diszipliniert gelebt und auf vieles verzichtet. Meist folgte auf diese gezügelte Phase jedoch eine vollkommene Eskalationsphase.
Ich fing dann an meine Kontrolle zu verlieren, wenn ich meinen eigenen Ansprüchen nicht gerecht wurde.
Ich nahm mir beispielsweise vor, nur einen halben Teller Nudeln zu essen. Aß ich dann aber doch einen ganzen Teller, habe ich meine selbst auferlegte Grenze überschritten. Ziel verfehlt, jetzt ist eh alles egal. Es folge ein zweiter Teller Nudeln und ein dickes Eis zum Nachtisch.
Manchmal habe ich mein Essverhalten am nächsten Tag wieder in den Griff bekommen und schaffte es meinem ursprünglichen Plan wieder konsequent zu folgen. Es kam jedoch auch vor, dass ich mich nicht so schnell fangen konnte und die Eskalationsphase mehrere Wochen anhielt.
In dieser Zeit schämte ich mich für mein Essverhalten. Schließlich wollte ich, dass alle glaubten, dass ich mich durchgehend gesund und vorbildlich ernähren würde. Für die Extrakilos machte ich dann meinen vermeintlich schlechten Stoffwechsel verantwortlich.
Das bedeutet, dass ich in meinen unkontrollierten Phasen heimlich essen musste. Möglichst schnell und unauffällig. So unauffällig, dass selbst ich nicht wirklich wahrnahm, was ich alles aß. Das erklärt zumindest weshalb ich mir all die Jahre selbst geglaubt habe, dass ich immer vorbildlich esse.
Kuchen, Chips und Süßigkeiten habe ich vollkommen verdrängt. So lief es über mehrere Jahre.
Irgendwann stieß ich während meines Studiums zur Ernährungswissenschaftlerin auf den Begriff „gezügeltes Essverhalten“. Und ich konnte mich mit der Definition total identifizieren.
In diesem Moment begriff ich, dass ich mit meinem gestörten Essverhalten nicht alleine war – im Gegenteil! In der Ernährungspsychologie gibt es sogar ein ganzes Forschungsgebiet zu dieser Thematik.
Es scheint also ein relativ häufiges Ernährungsmuster zu sein.
Deshalb denke ich, dass es ziemlich wahrscheinlich ist, dass sich der eine oder andere gezügelter Esser auch unter meinen Lesern verbirgt. Genau deshalb möchte ich dieses Thema nochmals etwas vertiefen.
Die meisten gezügelten Esser erkennen ihr eigenes Essverhalten nämlich gar nicht oder wollen es sich nicht eingestehen (so wie ich), bis es ihnen vor Augen gehalten wird. Deshalb folgt nun die genaue Definition des gezügelten Essverhaltens.
Der gezügelte Esser möchte seine Nahrungsaufnahme zwecks der Gewichtskontrolle einschränken und ist deshalb auf Dauerdiät. Die Betroffenen hören nicht dann mit dem Essen auf, wenn die Sättigung erreicht wird, sondern bereits vorher durch eine selbst auferlegte Diätgrenze.
So weit, so gut. Wenn es dabei bleibt, ist nichts dagegen einzuwenden, vorausgesetzt, man möchte abnehmen.
Das eigentliche Problem liegt jedoch darin, dass es den wenigsten gelingt, ihr Essverhalten dauerhaft zu kontrollieren. Gezügelte Esser leiden häufig an unkontrollierbaren Essattacken. Was letzten Endes dazu führt, dass sie im Schnitt dicker und unglücklicher sind als die nicht gezügelten Esser.
Durch empirische Untersuchungen ist bekannt, dass unkontrollierte Essanfälle meist erst dann entstehen, wenn zuvor eine Diät gehalten wurde. Kaum jemand, der sich sein Leben lang ausgewogen ernährt hat, leidet unter einem Kontrollverlust beim Essen.
Eine mögliche Erklärung ist, dass die Attraktivität bestimmter (meist während der Diät verbotener) Lebensmittel durch das gezügelte Essverhalten erhöht wird. Was man nicht darf, das will man haben – und das merkt sich das Gehirn.
Zusätzlich wird durch die Diät bzw. durch das gezügelte Essverhalten die natürliche Regulation von Hunger und Sättigung geschädigt. Der Hunger wird unterdrückt, während die Sättigung nie erreicht wird, da man sich an der selbst auferlegten Diätgrenze orientiert.
Das heißt, die Essenssteuerung erfolgt nur noch kognitiv statt physiologisch.
Diese kognitive, sprich durch den Kopf gesteuerte Regulation, ist jedoch relativ anfällig. Zum Beispiel durch Emotionen.
Wer ein stabiles Essverhalten hat, lässt sich von Emotionen wenig beeinflussen. Läuft die Essenssteuerung jedoch über den Kopf, dann ist die Störbarkeit stark erhöht. Vor allem Trauer, Angst, Frustration, depressive Verstimmungen und Ärger führen dazu, dass man mehr isst. Das Essen wird dann benutzt, um bestimmte Gefühle zu kompensieren.
Nun ist es leider oftmals so, dass die Vorsätze und Ziele einer Diät nicht erreicht werden, was frustrierend ist.
Für gezügelte Esser ist es ohnehin typisch, sich hohe und teilweise unrealistische Ziele zu setzen wie beispielsweise eine Gewichtsabnahme von 10 Kilo in einem Monat. Wird dieses Ziel nicht erreicht, sind die Betroffenen enttäuscht und frustriert. Um diesen negativen Gefühlen zu entkommen, greifen sie wieder zum Essen, wodurch ein Teufelskreis entsteht.
Doch auch die Essanfälle werden von den gezügelten Essern nicht als befriedigend empfunden. Sie essen schneller, kauen kaum und schlingen das Essen herunter. Was dabei gegessen wird, ist nahezu unbedeutend, Hauptsache viel.
Nein, das gezügelte Essverhalten ist nicht immer schlecht. Es wird nämlich zwischen dem gezügelten Esser mit einer rigiden Kontrolle und dem mit einer flexiblen Kontrolle unterschieden.
Das gezügelte Essverhalten in Kombination mit einer rigiden, strengen Kontrolle geht mit einer erhöhten Störbarkeit einher. Die Betroffenen setzen sich strikte Vorgaben, erlauben es sich nur eine bestimmte Menge an Kalorien zu essen und meiden viele Lebensmittel. Sie folgen einem festen Diätplan, der keinen Platz für Ausnahmen lässt.
Das sorgt langfristig meist für den Alles-oder-nichts-Effekt. Entweder man ernährt sich streng nach Plan oder man verliert die Kontrolle vollkommen.
Die gezügelten Esser mit einer flexiblen Kontrolle hingegen verfolgen zwar auch ein angestrebtes Ziel und verzichten dafür auf vieles, sind aber im Allgemeinen flexibler und dadurch weniger anfällig für einen totalen Kontrollverlust.
Essen sie bei einer Mahlzeit mehr, so kompensieren sie das durch Sport oder eine kleinere Portion am nächsten Tag. Die rigiden Esser hingegen würden dies sofort als Scheitern ansehen, vor Frustration in ein Loch fallen und eine Essattacke erleiden.
Grundsätzlich sollte man sich von der Idee der Diäten verabschieden. Durch die kurzfristigen und intensiven Einschnitte ins Essverhalten wird nicht nur die natürliche Sättigungsregulation geschädigt, sondern auch das Verlangen nach den verbotenen Lebensmitteln erhöht, wodurch es zu Essanfällen kommt.
Dies beides lässt sich durch eine kontinuierliche und ausgewogene Ernährung verhindern.
Selbst wenn die Sättigungsregulation bereits gelitten hat, so lässt sich diese durch ein gesundes Ernährungsmuster wieder sensibilisieren und erlernen. Wichtig ist hierbei, dass man langsam und bewusst isst. Dies beugt unkontrollierte Essattacken vor.
Außerdem sollte es keine verbotenen Lebensmittel geben. Alles ist in Maßen erlaubt, damit kein Heißhunger entsteht.
Setze dir realistische Ziele und gehe ohne Druck an die Sache. Entwickle wieder Spaß und Freude am Essen und finde einen Ernährungsstil, den du langfristig durchhalten kannst, um so dein Wunschgewicht zu erreichen.
Sei kein Schwarzweiß-Denker, sondern denke flexibler. Beim Abnehmen kommt es nämlich nicht auf den einzelnen Tag an, sondern auf das große Ganze. Solltest du mal einen Ausrutscher haben, dann gleiche den im Laufe der nächsten Tage einfach wieder aus, statt komplett zu kapitulieren.